Chemnitz und die Geburt der „Vier Ringe“

von Jörn Richter

Grand Prix von Deutschland mit Bernd Rosemeyer an der Box, 1936

Am 29. Juni 1932 erfolgte rückwirkend zum 1. November 1931 die Gründung der Auto Union AG in Chemnitz. Es war der Zusammenschluss der vier sächsischen Kraftfahrzeugmarken DKW (Zschopau), Audi und Horch (Zwickau) sowie der Automobilsparte von Wanderer (Siegmar). Das Logo dafür ergab sich von selbst: Vier untrennbar ineinander verschlungene Ringe. Es ist jenes Symbol, das sich heute auf jedem Audi befindet und auf seine sächsischen Wurzeln hinweist. Doch wenn fast jedes Kind das Zeichen der „Vier Ringe“ kennt, verbinden heute die wenigsten Menschen dieses mit Chemnitz.
So genial sich die Gründung der Auto Union anhört, war sie es jedoch nicht. Ihre Bildung stellte einerseits eine Antwort auf die Strukturkrise der deutschen Autoindustrie nach dem Ersten Weltkrieg und den Rückgang der KFZ-Zulassungen nach 1928 dar. Wenn 1928 in Deutschland noch 137.000 PKW zugelassen wurden, waren es 1932 noch gerade einmal 40.000.

Andererseits war die Gründung der Auto Union die Reaktion auf die verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise im Chemnitzer Industrieraum. Repräsentative Unternehmen wie die Zimmermann-Werke, die Hartmann-Werke, Sondermann & Stier, die Pöge-Elektrizitätswerke, die Chemnitzer Aktienspinnerei, alles Firmen, die einst das Rückgrat des Chemnitzer Arbeitsmarktes bildeten, schlossen ihre Tore. Während es Ende 1928 keine 10.000 Arbeitslose in Chemnitz gab, wurden Ende 1929 bereits fast 30.000 gemeldet. Bis Ende 1931 stieg ihre Zahl auf 65.000 an.  Und das war nur die Spitze des Eisberges.

Verwaltungsgebäude der Auto Union an der Scheffelstraße, 1936


Um diese schwierige Situation zu meistern, brauchte es neue Ideen und große Lösungen. Das Konzept für die Auto Union entwickelten nicht die Autounternehmen, sondern die Sächsische Staatsbank. Bei ihr und anderen Banken hatten die besagten Autounternehmen bereits Millionen von Krediten angehäuft. Nach dem Zusammenbruch der Darmstädter und Nationalbank (Danat-Bank) im Juli 1931 wurde das Vertrauen in das deutsche Bankensystem tief erschüttert. Unter Führung der Sächsischen Staatsbank entstand ein Bankenkonsortium, welches 1931/32 auf Druck der sächsischen Regierung das Ziel vorgab, diese Autohersteller miteinander zu fusionieren. Das Zschopauer DKW-Werk wurde mit weiteren Darlehen ausgestattet und als nunmehrige Auto Union AG umfunktioniert.

Mitteilung zur Gründung der Auto Union, Sächsische Volkszeitung, 1. Juli 1932

Für das Konzept, DKW Zschopau in das „aufnehmende Unternehmen“ umzuwandeln, sprach der Ruf des Werkes als größte Motorradfabrik der Welt, welche bereits das Audi-Werk in Zwickau für seine neue PKW-Produktion übernommen hatte. Weiterhin bestand seit über einem Jahrzehnt zwischen DKW und der Sächsischen Staatsbank eine enge Geschäftsbeziehung. Die beiden finanziell angeschlagenen Zwickauer Aktiengesellschaften Audi und Horch wurden in diesem Prozess zuerst entschuldet, dann aufgelöst und in die Auto Union aufgenommen. Ebenfalls kam die Autoabteilung der Wanderer-Werke und damit auch die 1931 durch Klaus Detlof von Oertzen (1894-1991) konzipierte Wanderer-Rennwagen-Abteilung in den neuen Autokonzern. Trotz der Abgabe der Autosparte blieben die Wanderer-Werke weiterhin eines der größten Unternehmen im Chemnitzer Industriebezirk. 1935 stellten ca. 6.000 Arbeiter bei Wanderer 10.000 Fräsmaschinen, 800.000 Fahrräder und 600.000 Schreib- und Büromaschinen her.

Das Gründungskapital der Auto Union betrug 14,5 Mio. RM (1 RM ca. 4,5 Euro). Die Staatsbank und damit der Freistaat Sachsen hielten davon über 75 % des Aktienkapitals. Der zweitgrößte Aktionär war die Stadt Chemnitz. Der damalige Chemnitzer Oberbürgermeister Walter Arlart wollte mit dem Engagement weitblickend nicht nur neue Arbeitsplätze schaffen, um den Industriestandort zu sichern, sondern mit der Ansiedlung des Konzernsitzes in Chemnitz ebenfalls Steuern generieren.


Wenn das Konzept der Auto Union durch die Sächsische Staatsbank entwickelt wurde, erfolgte seine Umsetzung im Konzern.  Als Finanz-Vorstand und „Primus inter pares“ lenkte Dr. Richard Bruhn (1886-1964) als faktischer Chef die Auto Union. Er war bereits seit 1930 als „Delegierter“ der Sächsischen Staatsbank im DKW-Vorstand tätig und mit dem Markt bestens vertraut. Und wenn die Auto Union viele Väter hatte, so verstand es Bruhn diese unterschiedlichen Kräfte nicht nur zusammen, sondern zu einem gemeinsamen Handeln zu führen. Damit personifizierte sich in ihm die Rettung der südwestsächsischen Automobilindustrie in der Weltwirtschaftskrise. Bruhns langjähriger Vertrauter war im Vorstand Dr. Carl Hahn (1894-1961), der sein Geschäft bei DKW gelernt hatte. Weiterhin wirkten im Vorstand der Auto Union Klaus Detlof von Oertzen, bis er 1935 im Auftrag der Auto Union nach Südafrika ging und William Werner (1893-1970) aus der Horch-Führungsetage. Kurzzeitig war auch DKW-Gründer Jörgen Skafte Rasmussen (1878-1964) Vorstandsmitglied. Doch Differenzen mit ihm zur strategischen Neuausrichtung der Auto Union führten bereits 1934 zu seiner Entlassung und 1938, nach einer fürstlichen Abfindung, zu seinem endgültigen Ausscheiden.

Werbung der Auto Union, um 1933

Mit der Auto Union war über Nacht 1932 in Chemnitz ein Konzern entstanden, der alle Segmente des PKW-Automobilmarktes dieser Zeit bedienen konnte. Die Auto Union wurde damit auf Jahrzehnte der erste und einzige deutsche funktionierende Mehrmarkenkonzern im Kraftfahrzeugbau. Vom DKW-Kleinwagen, über die Wanderer-Mittelklasse, die gehobene Mittelklasse von Audi bis zur Luxusklasse von Horch hatte man alles im Programm. Weiterhin blieb die Auto Union mit den DKW-Motorädern aus Zschopau der Marktführer in diesem Geschäft. Mit dem Aufbau der eigenen Rennsportabteilung machte die Konzernführung klar, dass sie sich anschickte, in das weltweite Automobilgeschäft einzusteigen. Die Bilanz des Automobilrennsport-Engagements zwischen 1934 und 1939 war eindrucksvoll. Aus insgesamt 61 Rennen resultierten 24 Siege, 23 zweite und 17 dritte Plätze. Von 23 Bergrennen wurden 18 gewonnen. Die Grundlage für diese Erfolge bildeten sowohl der Hochleistungsmotorenbau unter Ferdinand Porsche im Horch-Werk als auch die konsequente Umsetzung von Aerodynamik und Leichtbau. Damit hatte die Auto Union gegenüber den anderen deutschen Automobilherstellern einen quantitativen Vorsprung, den man verstand nun auch qualitativ zu forcieren. Innerhalb von wenigen Jahren avancierte die Auto Union zu einem bedeutenden Automobilhersteller mit Produktionsstandorten in Chemnitz, Zwickau, Siegmar, Annaberg, Zschopau und Berlin-Spandau.

In Ingolstadt erinnert heute eine Gedenktafel an Gründung und Wiedergründung der Auto Union


Zur Gründung der Auto Union und den daraus gewonnenen Synergien der vier Marken stellte der namhafte Wirtschafts- und Verkehrshistoriker Prof. Dr. Peter Kirchberg fest: „In der Tat erlebte die sächsische Kraftfahrzeugindustrie mit der Gründung der Auto Union einen Quantensprung. Die straffe Zusammenführung der vier bisher selbstständigen Unternehmen wurde zum zentralen Punkt der technischen Produktentwicklung. In nur wenigen Jahren schaffte es die Auto Union u. a. mit einem abgestimmten Typenprogramm zum zweitgrößten Kraftfahrzeughersteller hinter Opel in Deutschland. Bis 1938/39 wurden 3.000 Patente im In- und Ausland angemeldet und damit eine Spitzenposition im deutschen Automobilbau markiert. Die Auto Union setzte Maßstäbe für den Kraftfahrzeugbau schlechthin: Das erste Crashtestprogramm überhaupt, das erste serienreife Kunststoffauto 20 Jahre vor dem P 70, die Kultivierung des Frontantriebs als Pionier dieser Bauart legten davon Zeugnis ab. Die bei der Auto Union praktizierten Management-Methoden gehörten zu den modernsten in Deutschland. Der DKW F 9 war der einzige deutsche PKW als Antwort und gezielte Alternative zum heckmotorgetriebenen Volkswagen“. Im Jahre 1939 produzierte die Auto Union 61.000 Personenkraftwagen und Motorräder. „Jeder vierte PKW, der 1938 in Deutschland neu zugelassen wurde, trug die ´Vier Ringe´ am Kühler, jeder fünfte deutsche PKW kam aus Zwickau und jedes dritte Motorrad war eine DKW aus Zschopau“, so Kirchberg. Einer der wichtigsten Gründe dieser erfolgreichen Entwicklung offenbarte die Investitions- und Gewinnpolitik. Der Umsatz entwickelte sich von 65 Mio. RM im Jahr 1933 auf rund 273 Mio. RM im Jahr 1939. Die Rendite des Konzerns stieg von 2% in 1932 auf fast 12 % in 1938. Der größte Teil der Überschüsse floss in die Investitionen des Unternehmens und nicht an Anleger bzw. Aktionäre, da die Staatsbank inzwischen fast 100 % des Aktienkapitals besaß. Weiterhin profitierte die Auto Union nicht nur von ihrem neuen Wirtschaftskonzept, sondern von der ab Frühjahr 1933 neu durch den NS-Staat eingeleiteten Motorisierungspolitik, wie steuerfreie Neuwagenzulassung, führerscheinfreie Motorräder und dem Autobahnbau.

Obwohl bereits 1932 festgelegt wurde, dass in Chemnitz der Sitz des neuen Konzerns war, blieb die Verwaltung zunächst in Zschopau. Erst als 1935 die Auto Union das 135.000 qm große Presto Areal an der Scheffelstraße kaufen konnte, zog die Hauptverwaltung nach Chemnitz um. Dafür wurde das Gebäude in Altchemnitz erweitert und umgebaut. Wenn 1932 nicht einmal mehr 4.000 Menschen in den vier Werken Arbeit hatten, wuchs die Zahl der Beschäftigten auf 23.000 Mitarbeiter im Jahr 1938.
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die Auto Union ein Rüstungskonzern. Fremd- und Zwangsarbeiter verpflichtete man zur Aufrechterhaltung der vorgegebenen Kriegsmittelproduktion. Im Frühjahr 1944 wurde im KZ-Außenlager Leitmeritz (heute, Litoměřice, Tschechien) eine Produktionsstelle der Auto Union eröffnet. Etwa 18.000 Häftlinge durchliefen das KZ, circa 4.500 von ihnen kamen zu Tode.


Nach der Befreiung vom Faschismus und dem Leid, das NS-Deutschland über Europa gebracht hatte, waren sich die Siegermächte einig, die deutschen Rüstungsbetriebe sollten vollständig demontiert werden. Damit stand auch das intakte Verwaltungsgebäude der Auto Union an der Scheffelstraße bereits kurz vor der Sprengung. Dies konnte nur verhindert werden, indem es schnell in ein Krankenhaus umfunktioniert wurde, was es dann auch bis Anfang der 1990er Jahre blieb. Letztendlich wurde die Auto Union AG bis 1948 in Chemnitz liquidiert. Das zwischen 1932 und 1939 konzentrierte PKW-Entwicklungspotenzial war so langzeitorientiert, dass es Ende der 1940er Jahre zur Grundlage der „Vier Ringe“ Auto Union in Ingolstadt wurde. In der DDR führte das IFA-Kombinat (Industrieverband Fahrzeugbau) bis Ende der 1980er Jahre diese PKW-Entwicklung weiter
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Buchtipp:
Peter Kirchberg:
Automobilgeschichte in Deutschland.
Die Motorisierungswellen bis 1939.
Hildesheim 2021.
ISBN: 9783487086422

 
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