Wie Chemnitz Karl-Marx-Stadt wurde

von Jörn Richter

Der 10. Mai 1953 war mit Nachtfrost der kälteste Tag des Monats. Auf dem Fichtelberg fielen noch einmal 40 Zentimeter Schnee und die Stadt Annaberg war eingeschneit. Die Eisheiligen mit ihren Schnee- und Graupelschauern richteten in Sachsen große Schäden in den blühenden Obstgärten an.
Doch dieser Sonntag sollte für Chemnitz und seine fast 300.000 Einwohner ein denkwürdiger Tag werden. So zogen bereits in den frühen Morgenstunden zum Weckruf Fanfarengruppen und Schalmeienkapellen durch die verschiedenen Chemnitzer Stadtteile. Um 12 Uhr hatten sich dann 180.000 Menschen auf dem Stalinplatz (heute: Johannisplatz) vor der Tribüne am Roten Turm versammelt. Fünf Tage zuvor hatte der Ministerrat der DDR beschlossen Chemnitz in einem „festlichen Staatsakt“ in Karl-Marx-Stadt umzubenennen.

5. Mai 1953, Otto Grotewohl auf einer Tribüne vor dem Roten Turm stehend verleiht Chemnitz den Namen Karl-Marx-Stadt.


Wie kam vor 70 Jahren unsere Stadt zu dieser fraglichen Ehre?

Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten rückte das Thema der nationalen deutschen Einheit immer mehr in den Hintergrund. Adenauer betrieb die Westintegration der BRD und Ulbricht verkündete 1952 den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus" in der DDR. Damit erfolgte die zentrale Weichenstellung, wie es in der DDR weitergehen sollte. Neben einer Verwaltungsreform mit der Abschaffung der fünf ostdeutschen Länder, ging es um die beschleunigte Entwicklung der Schwerindustrie und die Kollektivierung der Landwirtschaft nach sowjetischem Vorbild. Diese stalinistische Theorie vom Aufbau des Sozialismus verlangte gleichsam nach einer ideologischen „deutschen“ Untermauerung. Karl Marx als „größter Sohn der deutschen Nation“ kam da für die Parteistrategen im Ostberliner SED-Politbüro wie gerufen. Aus Anlass seines 70. Todestages am 14. März 1953 und seines 135. Geburtstages am 5. Mai 1953 rief das Zentralkomitee der SED am 1. Januar 1953 das Karl-Marx-Jahr aus. Es war eine Art von Totenbeschwörung, die bereits Marx 100 Jahre zuvor beschrieben hatte: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.“
Dieses Zitat widmete Marx Napoleon III., der nach einer Volkswahl eine Diktatur errichtete und sich 1852 zum „Kaiser aller Franzosen“ proklamieren ließ. Jetzt war Marx selbst als „Geist der Vergangenheit“ im Karl-Marx-Jahr angekommen.
Nun erhielten in der DDR - wenn diese nicht schon vorher nach Marx umbenannt waren - zahlreiche repräsentative Straßen, Plätze, Betriebe, Schulen seinen Namen. Die Post gab Karl-Marx-Briefmarken heraus, an den Universitäten wurde ein Karl-Marx-Stipendium eingeführt, die höchste Auszeichnung der DDR, der Karl-Marx-Orden, wurde gestiftet und es sollte auch eine Stadt nach dem „größten deutschen Denker und Revolutionär“ benannt werden.


Keiner konnte im März 1953 ahnen, dass aus Chemnitz Karl-Marx-Stadt wird

Das zerstörte und beräumte Chemnitzer Stadtzentrum, um 1953. (1) Rathaus, (2) Deutsche Bank Falkeplatz, (3) Schocken.

Unter diesem Vorzeichen fand in Chemnitz - wie überall in der DDR - am Sonnabend, dem 14. März 1953, ein Großeinsatz des „Nationalen Aufbauwerkes“ statt. Zehntausende Werktätige, unter ihnen der neu „gewählte“ Oberbürgermeister Kurt Berthel sowie Hausfrauen, Rentner und Jugendliche beteiligten sich an Aufräumungs- und Enttrümmerungsarbeiten in der zerstörten Stadt. Für den Bau der damaligen Pioniereisenbahn (heute: Parkbahn) im Küchwald wurde an dem Tag der erste Spatenstich vollzogen. Niemand ahnte jedoch zu diesem Zeitpunkt auch nur im Ansatz in Chemnitz, dass die Stadt zwei Monate später Karl-Marx-Stadt heißen sollte.
Anders in Leipzig: Bereits Anfang 1953 wurde dort von einem Studenten der „Vorschlag“ unterbreitet der Alma Mater Lipsiensis, eine der ältesten deutschen Universitäten, den Namen von Karl Marx zu verleihen, wie es dann auch am 5. Mai 1953 erfolgte.
Favorit für die Stadt, die nach Karl Marx benannt werden sollte, war ursprünglich die Wohnstadt des seit 1950 entstehenden Eisenhüttenkombinates Ost an der Oder. Sie war noch ohne eigenen Namen und bot sich förmlich an, Karl-Marx-Stadt zu werden.
Doch es kam alles anders. Am 5. März 1953 war Stalin nach einem Zechgelage verstorben. Das war ein Schock in der gesamten kommunistischen Welt. Der spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher dichtete:
„Und aller Ruhm der Welt wird Stalin heißen!
Lasst uns den Ewig-Lebenden lobpreisen!“
Dieses Lobpreisen war zwar schon zur Genüge, insbesondere anlässlich Stalins 70. Geburtstag 1949, geschehen. In Berlin wurde damals die Frankfurter Allee in Stalinallee umbenannt, in Chemnitz und anderen Städten erhielten Straßen und Plätze seinem Namen. Doch nun sollte dem „großen Lehrer, geliebten Führer und größten Genius der Menschheit“ in der DDR ein „bleibendes“ Denkmal gesetzt werden. Zwei Monate nach Stalins Beisetzung verlieh Walter Ulbricht am 7. Mai 1953 der „ersten sozialistischen Stadt auf deutschem Boden“ (heute: Eisenhüttenstadt) den Namen Stalinstadt.


Die neue Stadt für Karl Marx
Doch für das Karl-Marx-Jahr benötigte man nun eine neue Stadt. Ob hier auch Leipzig in der engeren Wahl war, wie hier und da kolportiert wird, lässt sich in den Beschlussvorlagen des SED-Politbüros aus dieser Zeit nicht nachweisen. Jedenfalls tauchte dort in der Sitzung am 17. März 1953 zum ersten Mal unter dem vorletzten 27. Tagesordnungspunkt auf: „Umbenennung der Stadt Chemnitz“. Knapp einem Monat später am 14. April wurde im gleichen Gremium beschlossen, dem DDR-Ministerrat vorzuschlagen die Stadt Chemnitz in Karl-Marx-Stadt umzubenennen. Das geschah bis dahin alles von „oben“ und hinter verschlossenen Türen.
Doch nun musste es sehr schnell und eben auch mit scheindemokratischem Anstrich vorangehen, denn der Stichtag 5. Mai kam immer näher. Für den 21. April lud der Chemnitzer „Block der demokratischen Parteien und Massenorganisationen“ zu einer außerordentlichen Sitzung ein. Dort wurde die aus Berlin vorgegebene Umbenennung von Chemnitz „begrüßt“.
Damit es in der Bevölkerung auch zu keinen Missverständnissen kommen konnte, war bereits die indoktrinierte Lesart vorgegeben: „Die Verleihung des Namens Karl Marx ist … für die Chemnitzer Arbeiterschaft und die gesamte deutsche Arbeiterklasse eine hohe Ehre, aber auch eine große Verpflichtung. Ich zweifle nicht, dass unsere Werktätigen sich dieser Ehre und dieser Verpflichtung würdig erweisen werden…“, erklärte der Vorsitzende des DDR-Ministerrats Otto Grotewohl, als er am 10. Mai 1953 Chemnitz in „Karl-Marx-Stadt" umbenannte. Doch nicht nur die Stadt, sondern auch der neu gebildete Kreis und Bezirk erhielten nun den Namen Karl-Marx-Stadt.


Karl-Marx-Stadt – „Ehre und Verpflichtung“
Wie man im SED-Politbüro auf die Umbenennung gerade von Chemnitz kam, erläuterte Grotewohl in seiner mehr als einstündigen Rede vor den Kundgebungsteilnehmern. Darin ging er ausführlich auf die „Ruhmesblätter in der Geschichte der Chemnitzer Arbeiterbewegung“ ein. Und weiter in diesem Duktus erklärte er: „Wenn die Stadt Chemnitz schon in der Vergangenheit durch ihre starke Arbeiterbewegung bei den Werktätigen Deutschlands besonderes Gewicht hatte, so wird ´Karl-Marx- Stadt´ in Zukunft für den Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik und für den nationalen Kampf unseres Volkes eine entscheidende Bedeutung haben.“
Damit war die Richtung der weiteren Stadtentwicklung vorgezeichnet. Wenn man sich das damalige Stadtzentrum zwischen Falkeplatz und Schocken auf dem Luftbild ansieht, kann man leicht erkennen, dass das alte Stadtzentrum 1945 untergegangen war. Überstanden hatten das Bombeninferno nur wenige Bauwerke, vor allem jene, die nach 1910 aus Stahlbeton errichtet waren, wie das Neue Rathaus, das Tietz, das Schocken, die Deutsche Bank am Falkeplatz, die ehemalige Dresdner Bank (heute am Johannisplatz) oder das Gebäude des Chemnitzer Bankvereins (heute: Johannisplatz 1). Die Stadt war seit Ende der 1940er Jahre von den Trümmern beräumt. Für einen Neuaufbau stand ein riesiges Areal zur Verfügung, und es gab auch schon Planungen dafür. Ob diese große Baufläche auch schon bei den Berliner Politstrategen bei der Namensgebung eine Rolle spielte, ist nicht überliefert. Aber wenn man sich den Nachkriegsaufbau in den folgenden Jahrzehnten ansieht, ging es jetzt in Chemnitz eben auch architektonisch um den Aufbau der Stadt von „Karl Marx“. Mit der Einweihung des Karl-Marx-Monumentes am 9. Oktober 1971 fand dies vor 250.000 Menschen seine einstige „Krönung“. Überhaupt wurde nun Karl-Marx-Stadt nach innen und außen als sozialistische Vorzeigestadt zelebriert. Einer der Höhepunkte war die 1965 mit riesigem Bahnhof - aber völlig ahistorisch - begangene Feier „800 Jahre Karl-Marx-Stadt“, wozu man eigens die Anfänge der Stadtgründung umdeutete. Um Marx, der zum Leidwesen der SED-Oberen niemals in Chemnitz war, in die Köpfe der Karl-Marx-Städter zu bringen, wurde bereits 1953 eine Karl-Marx-Ausstellung eröffnet. Diese „Pflege der revolutionären Traditionen“ erreichte dann Ende der 1970er Jahre seinen fragwürdigen Höhepunkt, als es in der Stadt zwar drei „Gedenkstätten der Arbeiterbewegung“ gab, aber das stadthistorische Museum auf dem Schloßberg bautechnisch verfiel und über 15 Jahre geschlossen blieb.
Wie gingen die Chemnitzer nun mit der neuen „Würde“ um, Karl-Marx-Städter sein zu dürfen?
In den Betrieben des Bezirkes wurden 1953 kurz vor Umbenennung noch 15.000 Einzel- und Kollektivverpflichtungen der Werktätigen zum Aufbau des Sozialismus gesammelt. Als gut einen Monat später am 17. Juni 1953 der Aufstand gegen die SED-Politik ausbrach, in der DDR und ebenfalls in weiten Regionen Sachsens hunderte Betriebe bestreikt wurden, blieb es in Chemnitz sowie im Bezirk weitgehend ruhig. Dieses Phänomen, wie auch überhaupt die Geschichte von Karl-Marx-Stadt, ist in der neuen Geschichtsforschung leider noch ein „weißer Fleck“. Dazu gehört insbesondere das Wechselverhältnis von industrieller und Stadtentwicklung. Wenn man zum Beispiel bedenkt, dass in Siegmar seit Ende der 1940er Jahre mit der Wismut - zu Spitzenzeiten ca. 100.000 Beschäftigte - eine Art „Staat im Staate“ thronte, kann ihre Ausstrahlung nicht wirkungslos auf die Chemnitzer Entwicklung gewesen sein.
Einen großen Aufschrei gegen den Namen Karl-Marx-Stadt gab es bis 1989 in der breiten Bevölkerung jedenfalls nicht. Man rechtfertigte sich vielleicht, dass andere „Weltstädte“ wie Washington oder Leningrad nach großen Personen benannt wurden, warum dann nicht auch Chemnitz? Klar war auch, egal ob Widerspruch oder gar Widerstand, er wäre sofort im Keim erstickt worden. Die Chemnitzer arrangierten sich mit den Gegebenheiten und machten ihre Witze.  Wie heißt die einzige DDR-Großstadt mit drei O? Antwort: „Gorl-Morgs-Stod“. Oder für die Erzgebirgler hieß Chemnitz seit alters her „Chams". Nun wurde daraus eben „KaMS".


Karl-Marx-Stadt am Ende
Das Ende von Karl-Marx-Stadt ist leicht beschrieben und vielen noch gegenwärtig. Die DDR verpasste ihre eigene „Wende“ und trat der Bundesrepublik bei.  Damit war auch Karl-Marx-Stadt passé. So wie die Chemnitzer 1953 nicht frei entscheiden konnten, ob sie nun Karl-Marx-Städter sein wollten, haben 1989/90 ganz frei über 75% der Karl-Marx-Städter entschieden, dass sie wieder Chemnitzer sein wollen.

Karl-Marx-Statue in Trier

Trotzdem lastet das Trauma „Karl-Marx-Stadt“ noch heute 33 Jahre nach der Rückbenennung in den Gehirnen der Chemnitzer. Wenn 2018 zu Marx´ 200. Geburtstag die andere deutsche „Karl-Marx-Stadt“ Trier Marx für sich neu entdeckte, fand dieses Ereignis in Chemnitz so gut wie keine Würdigung. Die Domstadt feierte den „berühmtesten Trierer“ nicht nur mit der obligatorischen neuen Dauerausstellung im SPD-geführten Karl-Marx-Haus in der Trierer Brückenstraße, sondern mit zwei hochkarätigen Marx-Ausstellungen sowohl im Rheinischen Landesmuseum als auch im Trierer Stadtmuseum „Simeonstift“, gleich neben der Porta Nigra. Zum Festakt in der Konstantin-Basilika sprach kein geringerer als der damalige Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker, der Marx als einen „in die Zukunft gerichteten Denker würdigte, der viele Menschen unterschiedlicher politischer Provenienz inspiriert habe“. Gleichfalls gönnte sich Trier zum Jubiläum, wenn auch nicht ganz unumstritten, nun auch eine „Karl-Marx-Statue“. Die 5,50 Meter hohe Bronze-Skulptur, aufgestellt am ehrwürdigen Simeonstiftplatz, war ein Geschenk der Volksrepublik China an Trier. Die Figur eines chinesischen Künstlers zeigt Marx im Gehrock und mit einem Buch unter dem linken Arm voranschreitend. Mit dieser Marx-Statue macht Trier seitdem Chemnitz dahingehend Konkurrenz, dass abertausenden Chinesen, die jährlich Deutschland besuchen, nun nicht mehr den Abstecher nach Chemnitz machen müssen, um sich in Deutschland mit Marx zu fotografieren, sondern dieses Spektakel nun in seiner Geburtsstadt als Zugabe bekommen.


Kommentar
Aus der Geschichte lernen
Geblieben in Chemnitz ist von Karl-Marx-Stadt das Karl-Marx-Monument, das bekannteste und meistfotografierte Architekturobjekt. Geblieben ist weiterhin in den Geburtsurkunden mehrerer Generationen von Chemnitzern der Geburtsort Karl-Marx-Stadt. 33 Jahre nach der Rückbenennung in Chemnitz fragen wir uns heute noch immer, war Karl-Marx-Stadt ein Irrtum der Geschichte oder gar ein Schandfleck über den man nicht spricht?
Der Übergang von Chemnitz zu Karl-Marx-Stadt ist nicht zu verstehen, wenn man nicht die Entwicklung unserer Stadt beginnend mit der Industrialisierung bis zur tragischen Zerstörung des Stadtzentrums in Betracht zieht. Dabei muss diese Stadtgeschichte ebenfalls in die unterschiedlichen Facetten der gesamtdeutschen wie europäischen Geschichte eingebettet werden.
Doch dazu müssen wir unsere Geschichte selbst aufarbeiten.
Institutionen gibt es dafür mit der Universität, Museen, Archiven und Vereinen genügend, aber leider niemanden, der ein solches Projekt koordinieren würde.
Bereits 2018 zur 875 Jahrfeier wurde verpasst, sich diesem Thema intensiv zuzuwenden. Auch die Kulturhauptstadt 2025 kokettiert mit vielen nichtssagenden Gemeinplätzen zur Chemnitzer Geschichte, ohne sich wirklich mit dieser inhaltlich auseinandersetzen zu wollen.
Wir haben seit 1990 die Chance unsere Stadtgeschichte entideologisiert und in ihrem ganzen Reichtum aufzuarbeiten.

Wann fangen wir damit an?



 
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