Als Fliegen noch ein Abenteuer war: Vor 110 Jahren startete in Chemnitz die Sächsische Flugwoche

von Andreas Hütter

Als ersten Höhepunkt in der Chemnitzer Luftfahrtgeschichte kann man die Sachsen-Flugwoche 1911 bezeichnen. Sie wurde vor nunmehr 110 Jahren vom Königlich Sächsischen Verein für Luftfahrt gemeinsam mit den anderen sächsischen Vereinen für Luftschifffahrt organisiert.

Den überaus schnellen Aufschwung des Flugwesens hatte Deutschland verschlafen, Frankreich , England und die Vereinigten Staaten hatten sich einen technischen Vorsprung geschaffen, dort waren die schon längeren Überlandflüge ein Zeichen der Vervollkommnung der eigenen entwickelten Flugapparate. Militärisch gesehen hatten dieser Länder auch schon die Vorherrschaft auf See. Mit der Förderung der Luftfahrt, damals als „Aviatik“ bezeichnet, wollte Deutschland erreichen, eine neue starke Waffe im europäischen Konkurrenzkampf zu besitzen. Man erkannte frühzeitig die Auswirkung einer Vormachtstellung in der Luft. Flugtage in vielen deutschen Städten sollten zur patriotischen Anteilnahme bei der Förderung des Flugwesens beitragen. Mit hohen Preisgeldern und Aussicht zu weiteren Aufträgen wurden Piloten und Firmen gelockt, ihre Flugzeuge vorzuführen. Mit stetig gesteigerten Anforderungen sollten die Flugzeugführer und Flugzeugfabrikation vor größere Aufgaben gestellt werden, um diese technischen Nachteile aufzuholen.

Gleichzeitig mit dem geplanten Rundflug über Sachsen hatten die beteiligten großen Städte eigene Flugtage und ein Rahmenprogramm vorbereitet. Um keine Stadt zu übervorteilen, wurde im Vorfeld festgelegt, daß diejenige Stadt, die bis zum 15. Februar 1911 die meisten Geldmittel aufbringt, Ausgangs- und Endpunkt der Veranstaltung sein sollte.

„Die Zeichnungen für den Garantiefond sind am 6. März abgeschlossen worden. Es haben gezeichnet: Chemnitz 106.359 M., Leipzig 28.000 M. und Dresden 65.000 M.“ meldete die Zeitung Flugsport. Somit hatte Chemnitz die Nase vorn.

18 „Aviatiker“ hatten sich zur Abnahme der Flugapparate am 20.05. 1911 in Chemnitz eingefunden. Darunter die besten deutschen Flieger wie Otto Lindpaintner, Hans Grade und Eugen Wiencziers. Aber auch der erprobte Chemnitzer Pilot Felix Laitsch ging mit einem Albatros-Doppeldecker an den Start. Zur Teilnahme berechtigt waren nur Flieger deutscher Staatsangehörigkeit, die nachweislich mindestens eine Stunde ohne Unterbrechung geflogen waren.

Am Abend fand im Kaufmännischen Vereinshaus ein Bankett in Chemnitz zu Ehren der Flieger statt, an der zahlreiche Mitglieder des Chemnitzer Vereins für Luftfahrt, die Spitzen der Behörden und Ehrengäste, sowie mehrere Flieger teilnahmen.

Für Sonntag, den ersten offiziellen Chemnitzer Flugtag (21. Mai), war ein reichhaltiges Programm aufgestellt und mit Spannung sahen die Chemnitzer den flugsportlichen Darbietungen entgegen. Der Regen hatte nachgelassen, doch böiger Wind machte sich in unangenehmer Weise bemerkbar. Die Schaulustigen konnten hier erfahren, was Hoffen und Harren heißt. Fast 20.000 umstanden im weiten Umkreis das sehr günstig gelegene Flugfeld. Aber auch die turmgekrönten Höhen des Adels- und Beutenberges, die Abhänge und Straßen der Umgebung waren von Menschen belebt — in langen schwarzen Kolonnen reihten sich Mann an Mann, es waren die Zaungäste, die sich den seltenen Genuss des „himmlischen“ Schauspiels so billig verschafften. Sie mussten Geduld mitbringen.

Gegen 3 Uhr nachmittags ließ der Wind etwas nach und die Flieger erschienen mit ihren Apparaten am Start zum Eröffnungspreis. Anschließend starteten 8 Piloten zu einem kleinen Überlandflug über ca. 20 km, zum Adelsbergturm, nach dem Turm auf dem Beutenberg und wieder zurück zum Startpunkt. Lindpaintner sicherte sich die 1500 Mark Siegprämie.

Um den vom Limbacher Verein für Luftschiffahrt gestifteten großen Überlandflugpreis, den Preis von Limbach (30 km), starteten anschließend nur 3 Flieger. Die Flieger mussten nach Limbach fliegen, dort einen Fesselballon umrunden und südlich an Chemnitz vorbei zum Flugplatz zurückfliegen. Lindpaintner siegte auch hier, Laitsch mußte bei Grüna eine Zwischenlandung vornehmen, Kahnt mußte wegen Motordefekts bei Meinsdorf aufgeben. Schließlich fand am Abend noch ein Höhenpreis statt.

Am Montag, den 22. Mai, sollten die Chemnitzer Flugtage ihren Fortgang nehmen. Zwar war der Andrang am Exerzierplatz nicht minder stark, auch brachten die Straßenbahnzüge zahlreiche Zuschauer heraus, aber der heftige, böige Wind machte ein Starten unmöglich. Nachdem um 17.00 Uhr das Komitee zu einer Beratung zusammenkam, beschloß man, den große Rundflug um Chemnitz, für den 16.000 Mark an Preisen zur Verfügung standen, abzusagen. Ebenso den geplanten Aufklärungs- und Wurfpreis. Es sollten jedoch, wenn das Wetter es zulässt, kleine Wettbewerbe stattfinden. Ein Wettbewerb um den kürzesten Anlauf fand als Erstes am Abend statt. Gegen 8 Uhr wurde dann noch einmal der Eröffnungspreis ausgetragen.

Auch am Dienstag, dem 3.Tag, machte sich die Frage breit: Wird geflogen, wird nicht geflogen? Am Mittag bereits beschloss das Organisationskomitee schließlich, den Rundflug in Chemnitz aufzugeben und am Ende der Sachsenwoche abzuhalten, wenn es das Wetter zuließe. Nachdem man mit den Fliegern verhandelte und die Windverhältnisse prüfte, entschloß man sich, die am Vortag abgebrochenen Wettbewerbe fortzusetzen und dann den Flug nach Dresden anzutreten.

Zunächst wurde der Aufklärungspreis ausgetragen. Die Flugübung hat folgende Idee zugrunde: In einer Entfernung von höchstens 10-15 km vom Start wurde eine feindliche Stellung, durch Flaggen gekennzeichnet, angenommen. Der Preis war demjenigen Flieger zugedacht, der in kürzester Zeit die beste Meldung über die Anzahl der verschiedenen Flaggen und den Aufstellungsort brachte. Jeder Flieger hatte gleich nach Eintreffen innerhalb von 5 Minuten eine Meldung über seine Erkundung zu schreiben (Daran erkennt man die militärische Bedeutung der noch jungen Fliegerei.) Es starteten 5 Flieger, 3.000 Mark erhielt Hans Grade als Sieger, der in 23,5 Minuten deutlich vor Laitsch und Lindpaintner triumphierte.

Am Abend begann der Start zur 1. Etappe – Chemnitz-Oederan-Freiberg-Dresden – des großen Rundfluges durch Sachsen. 9 Flieger hatten sich dazu gemeldet. Felix Laitsch landete nach 61 Minuten Flugzeit als erster auf der Dresdner Vogelwiese nahe der Loschwitzer Elbbrücke. Lindpaintner folgte noch am Abend, weitere Flieger am nächsten Morgen.

Bei herrlichstem Wetter konnten die Veranstalter auch den sächsischen König und die 3 Prinzen auf dem Flugplatz begrüßen. Die Wettbewerbe wurden an 2 Tagen unter ebenfalls großer Zuschauerbeteiligung in Dresden fortgesetzt, ehe am 26.Mai die ersten Flieger die nächste Etappe nach Leipzig in Angriff nahmen. Am Sonnabendmorgen wurden die restlichen Flieger in Leipzig erwartet.

Auch die Leipziger Flugtage konnten auf Grund des mäßigen Wetters nur mit einem verkürzten Programm durchgeführt werden. Nur zu 3 Wettbewerben erhoben sie die Flieger auf den ebenfalls stark besuchten Exerzierplatz in Leipzig-Lindenau.

Am Sonntagabend erwartete ein starker Gewittersturm die Flieger auf ihrem Weg nach Plauen, den sie durchqueren mußten. Als Erster kam Büchner um 19:53 Uhr in Plauen an und kurz vor halb Neun landete Laitsch, er wurde als Sachse und als voraussichtlicher Sieger besonders herzlich begrüßt. Lindpaintner hatte wegen Motordefektes in der Nähe von Ronneburg eine Zwischenlandung vornehmen müssen. Nach erfolgter Reparatur traf er Montag, den 29.Mai, in Plauen ein.

Nur noch 3 Flieger waren somit im Rennen. Auch der Start zur letzten Teilstrecke Plauen-Chemnitz musste auf Grund des stürmischen Wetters mehrfach verschoben werden. Schließlich wurde der Start von der Flugleitung für Mittwoch, den 31.Mai, morgens ½ 4 Uhr freigegeben. Büchner und Lindpaintner führten nach der vorgeschriebenen Zwischenlandung in Zwickau den Flug nach Chemnitz zu Ende, während Laitsch, nachdem er die Ziellinie in Zwickau bereits glücklich überflogen hatte, wegen Motordefekt in einem nahen Kornfeld niedergehen musste. Büchner landete in Chemnitz um 5 Uhr 27 Min. und Lindpaintner um 5 Uhr 54 Min. Laitsch setzte erst am Abend seine Fahrt von Zwickau nach Chemnitz fort. Er stieg um 19:15 Uhr in Zwickau auf, er landete eine Stunde später glatt auf dem Chemnitzer Flugfeld. Kurz vor dem Zielband ging Laitsch nieder und überflog dieses erst nach 20:30 Uhr. Laitsch machte sich einen Passus der Ausschreibungen zunutze. Hätte er das Zielband vor ½ 9 Uhr überflogen, so kam er wegen der Strafpunkte auf den dritten Platz, da bis zu dieser Zeit für jede Stunde der Verzögerung eine bestimmte Anzahl Strafpunkte angerechnet werden musste. Da aber nach ½ 9 Uhr abends die Zeit nicht mehr gewertet wurde, sondern der nach dieser Zeit eintreffende Flieger die Pauschalsumme von 15 Strafpunkten erhielt, so langte er eben kurz nach 20:30 Uhr an. Durch die schon vorher erreichten Gutpunkte blieb Laitsch nach Abzug dieser 15 Strafpunkte immer noch Sieger.

Für Donnerstag, den 1.Juni, stand der große Rundflug um Chemnitz, der Wurfpreis und der Passagierflugpreis auf dem Programm. Der lichte blaue Himmel und der Sonnenschein lockten eine große Schar der Flugsportfreunde zum Exerzierplatz. Auf dem grünen Rasen entwickelte sich in den Nachmittagsstunden ein vornehmes gesellschaftliches Bild, zu dessen Belebung die Damenwelt durch elegante Toiletten vor allem beitrug. Aber Aeolus, dieser „windige“ Geselle, nahm auch an diesem Tage wieder die Backen so voll, dass ein Flug nicht ganz ungefährlich erschien. Der Rundflug um Chemnitz, auch der Wurfpreis wurden abgesetzt. Lediglich Otto Lindpaintner absolvierte noch den Passagierflugpreis.

Am Sonnabend nachmittag trat in Chemnitz das Preisgericht zu einer Sitzung zusammen. Nach eingehender Beratung wurden den Fliegern, die den ganzen Flug ausgeführt hatten, folgende Punkte zuerkannt: Laitsch 143, Büchner 121, Lindpaintner 117. Laitsch erhielt demnach den 1. Preis im Betrag von 30.000 M. und den Zusatzpreis des preuß. Kriegsministeriums in Höhe von 5.000 M., außerdem gab das preußische Kriegsministerium bei den siegreichen Albatros-Werken in Berlin einen Flug-Apparat im Werte von 28.000 M. in Auftrag. Büchner erhält an Preisen 17.000 M. und Lindpaintner 21.500 M.

Ende gut, alles gut! Dieses oft zitierte Sprichwort möchte ich auf die „Sachsenwoche‘" anwenden, die trotz aller Widerwärtigkeiten, die sich dem Unternehmen in den Weg stellten, einen glänzenden Verlauf genommen hat. Der Rundflug durch Sachsen war eine Zuverlässigkeitsveranstaltung im wahrsten Sinne des Wortes. Die Flieger, die den Sachsenrundflug glücklich beendet haben, bestanden die Feuerprobe für größere Konkurrenzen. Mit allen Gefahren und Widrigkeiten haben die wackeren Flugzeugführer gekämpft, undurchdringlichem Nebel, heftigen Stürmen und schweren Gewittern haben sie die Stirn geboten. Wenn dennoch drei Flieger unversehrt und mit unbeschädigten Apparaten am Ziel anlangten, so ist das eine hoch anzuerkennende Leistung. Denn zu dieser Zeit war es vielleicht eine der schwersten Konkurrenzen, die damals überhaupt geflogen wurden.

Eine ausführliche Beschreibung der Veranstaltung finden Sie auf Chemnitz-gestern-heute.de

(Quellen: Deutsche Luftfahrt Nr.11+12/1911, div. Ausgaben sächsischer Tageszeitungen)

 
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