Gablenzsiedlung — eine Stadt vor der Stadt

von Jörn Richter

Die Gartenstadt Gablenzsiedlung ist ein architektonisches Kleinod und Geheimtipp auf dem Wohnungsmarkt. Dass sie für den Beginn des sozialen Wohnungsbaus in unserer Stadt steht, ist dabei weniger bekannt.

Gründung 1911

1883 wurde Chemnitz mit über 100.000 Einwohnern Großstadt und steuerte um 1910 bereits die 300.000er Einwohnermarke an. Das alles fand auf einer Fläche statt, die gerade mal ein Viertel so groß war wie die heutige Stadt. In Mietskasernen, ohne Licht, Luft und Sonne, fristeten die meisten Arbeiterfamilien ihr kärgliches Dasein. Schwindsucht und andere Krankheiten waren die Folge unsozialer Wohn- und Lebensbedingungen. Doch Bauland für gemeinnützigen Wohnungsbau gab es faktisch nicht, da die Hausbesitzerlobby im von ihnen bis 1918 dominierten Stadtrat derartige Anträge blockierte.

Grundsteinlegung 1911

Dem wollten mehr als 200 Arbeiter und Angestellte nicht mehr tatenlos zusehen. Am Wochenende vom 11. zum 12. Februar 1911 gründeten sie unter Vorsitz von Ernst Merkel (1867-1934) und Albert Jentzsch (1880-1954), beide Mitarbeiter der SPD-Zeitung Volksstimme, die Allgemeine Baugenossenschaft für Chemnitz und Umgebung eGmbH, kurz ABG. Binnen zweier Jahre schaffte es dann die ABG mit der Stadt einen Erbpachtvertrag als Grundlage für den Bau einer Siedlung in Gablenz zu schließen.

Baustart im Krieg

Für 1914 war der Baustart geplant, aber der Kriegsbeginn verzögerte alles. Zu Pfingsten 1915 ging es mit dem ersten Spatenstich und unter „eigener Regie“ los. Die Bebauung des Karrees (Rotdorn, Geibelstraße, Postweg, Krumme Zeile) ­bestand aus drei Wohnhausgruppen mit 18 Häusern, 102 Wohnungen und Hausgärten, Konsumladen, ABG-Geschäftsräumen, Zentralwäscherei mit Bädern und Kinderspielplatz. Das Unterfangen war trotz aller Begeisterung ein großes Wagnis. Täglich erhielten vor allem jüngere Männer ihre Einberufung an die Front. Der Bau verlor so die gesamte Bauleitung und die Bauzeit, die eigentlich im Herbst 1915 nach vier Monaten (!) abgeschlossen sein sollte, verzögerte sich bis 1916. Damals wurde am Rotdorn-Portal in Erinnerung an diese Zeit der Sinnspruch aus der Feder von Albert Jentzsch angebracht:

Genossenschaft, Genossenschaft,
So schärft der Treue Waffen.
Der Nörgler
Bleib aus unserm Pfad,
Für Hader ist die Zeit zu schad.
Es gilt noch viel zu
Schaffen.

In schwerer Zeit bin ich
Entstanden,
Krieg tobt umher
In allen Landen.
Wenn Frieden wieder auf
Der Erden,
Wird meine Arbeit Segen
Werden.

Nach der Novemberrevolution hatten sich die Rahmenbedingungen für die ABG grundlegend geändert. Fast ein Jahrzehnt hatten nun die Arbeiterparteien und Gewerkschaften die absolute Mehrheit im Stadtparlament. Zwischen 1919 und 1932 wirkten mindestens 15 Bewohner nur aus der Gablenzsiedlung in zeitlich unterschiedlichen Abschnitten als Stadträte. Bereits im Januar 1919 wurde eine Verordnung über das Erbbaurecht neu erlassen und im Sommer der neue ABG-Erbbauvertrag gebilligt, der weit über die Stadtgrenzen hinaus den Status eines Mustervertrages bekam. Damit waren für den gesamten gemeinnützigen Wohnungsbau die Voraussetzungen gegeben.


Architektonische Vielfalt

Der Siedlung haben zwischen 1915 und 1932 drei Architekten in verschiedenen Bauphasen ihr heutiges Aussehen verliehen. Unter Erwin Schäller wurden von 1915 bis 1925 die Karrees zwischen Krummer Zeile und Geibelstraße im Heimatschutzstil errichtet. Curt Henning baute 1925/26 an der Geibelstraße 37-47 und 36-37 den zentralen Marktplatz mit Brunnen. Wenn Henning bereits den Übergang zum Stil des Neuen Bauens einleitete, dann setzte Bruno Kalitzki (1890-1953) mit seinem expressionistischen Tor zur Siedlung an der Kreuzung Geibel- mit der Charlottenstraße einen attraktiven architektonischen Akzent.

Die Goldenen 20er Jahre

Die zweite Hälfte der 1920er Jahre war die Blütezeit der Siedlung. Bis 1932 hatte die ABG eine Musterstadt vor den Toren der Stadt mit knapp 200 Ein- und Mehrfamilienhäusern, über 900 Wohnungen mit Hausgärten für ca. 3.600 Bewohner errichtet. Doch nach dem ABG-Konzept sollten nicht nur Familienwohnungen entstehen, sondern, so propagierte es der Grandsenior der ABG, Ernst Merkel, der „neue Mensch“ geschaffen werden. Danach entstanden in der Siedlung neben Sport-, Musik-, Gesangs- und Kleintierzüchtervereinen (Hasen, Ziegen, Geflügel) völlig neue Formen des Miteinanders. Die Gemeinsamkeit des Wohnens wurde durch die ABG-Mitglieder u. a. in Mieter-, Feld- & Gartenbau-, Wirtschafts- und Volksbildungs-Ausschüssen geregelt. Ein Frauenausschuss gründete einen Montessori-Kindergarten. Die Diesterweg-Schule 1930 mit ihrem Reformprofil ging auf den unmittelbaren Einfluss der ABG zurück. Überhaupt hatte die Erziehung der Kinder in der Siedlung, welche ja die Hälfte der Einwohner damals stellten, höchste Priorität. Neben einer Bibliothek und einem Jugendheim wurden von der ABG Kinder- und Sportfeste, Theateraufführungen, Handarbeitslehrgänge, Lichtbildervorträge, Ausstellungen, Weihnachtsfeiern und Jugendweihen usw. organisiert. Für das gesellige Miteinander stand das Genossenschaftsheim mit Kegelbahnen zur Verfügung. Wichtig war im ABG-Konzept das 1930 errichtete Altersheim. Hier fanden Genossenschaftler, die einst mit vielen Kindern in größeren Wohnungen bzw. Reihenhäusern lebten, ihren Rückzug. Die Idee war, ihre größeren Wohnflächen wieder neuen kinderreichen Mitgliedern zur Verfügung zu stellen. Weiterhin gab es in der kleinen Stadt neben der ABG-Verwaltung eine eigene ABG-Sparkasse, einen Arzt mit Hebamme, zwei Feuermelde- und eine Poststelle sowie eine Kfz-Werkstatt mit 12 Garagen und Motorradabstellräumen. Auch für die Lebensmittelversorgung hatte die ABG mit sechs Konsumläden ihr eigenes Modell. Allein im Jahre 1925 spielten sie über 5.000 RM in die gemeinsame ABG-Genossenschaftskasse zurück.

 ABG in ganz Chemnitz

Das Gablenzer Modell fand in Chemnitz enormen Zuspruch und die ABG begann ähnliche Siedlungen in anderen Stadtteilen in Angriff zu nehmen. Sie entstanden in Altendorf, damals Burgstraße, heute Rudolf-Krahl-Straße; in Ebersdorf, damals Vitzthumstraße, heute Max-Saupe-Straße; in Markersdorf, Am Hochfeld, Eisenweg und in Kappel, Platner Hof.

Mit 8.600 Mitgliedern avancierte die ABG zur größten Wohnungsgenossenschaft in Chemnitz, war die zweitgrößte in Sachsen und strahlte weit über den Freistaat hinaus.

Im Umfeld der ABG, die bereits mit dem Baustart 1915 einen Bauhof und eine Ziegelei eingerichtet hatte, entstanden unterschiedliche Bau- Handwerksfirmen. Diese verkörperten ein enormes Wirtschaftspotenzial. Die daraus hervorgegangene Bauhütte unter Albert Jentzsch zählte um 1930 zu den größten Bauunternehmen der Region. Neben den Siedungsbauten errichtete sie auch das städtische Altersheim, das Stadtbad und Fabrikanlagen in der Kauffahrtei.

 

Von 1933 bis 1945

Mit der Machtübernahme 1933 besetzten NS-Gefolgsleute die ABG-Verwaltung. So brüstete sich der neue faschistische ABG-Vorstand, dass er einst als „Leiter einer kleinen ´Faschisten-Siedlung´" nun zum „Vorstand der ehemaligen größten Marxisten-Siedlung" aufgerückt war. Alle ABG-Strukturen wurden zerschlagen, ABG-Mitglieder verhaftet, ins Gefängnis sowie KZ gesteckt. Einzelne gingen in den Widerstand bis zu den Interbrigaden nach Spanien. Große Teile des ABG-Vermögens beschlagnahmte man. Wirtschaftliche Einrichtungen, wie die Konsumläden, gingen an regimenahe Händler.

Von 1945 bis heute

Die ABG-Siedlungen blieben von den Zerstörungen 1945 fast verschont. Einen neuen antifaschistischen Staat wollten viele aktive ABG-Bewohner mitgestalten. ABG-Mitgründer Albert Jentzsch, von 1919 bis 1933 SPD-Stadtverordneter, mehrmals im KZ inhaftiert, arbeitete von 1945 bis kurz vor seinem Tod als Zweiter Chemnitzer Bürgermeister. Junge, in der Gablenzer Siedlung aufgewachsene, Menschen machten in der DDR zum Teil steile Karrieren, die bis zum General oder Politbüromitglied reichten. Andere, wie der bereits schon von den Nazis entlassene Direktor der Diesterweg Schule, Moritz Nestler (1886-1976), kamen Ende der 1940er Jahre als „reaktionärer Feind der Schulreform“ ins DDR-Zuchthaus. Bernd Jentzsch, geb. 1940, Enkel von Albert Jentsch, Herausgeber der DDR-Lyrikreihe „Poesiealbum“, konnte nach einem Studienaufenthalt in der Schweiz nicht in die DDR zurück, weil er gegen die Biermann-Ausbürgerung protestiert hatte.

So widersprüchlich wie die Biografien von ABG-Bewohnern waren, verlief auch die Entwicklung der Genossenschaft. Als in den 1950er Jahren mit den Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaften (AWG) ein Bauboom einsetzte, blieb die ABG davon ausgeschlossen. Die ABG hatte zwar auf Grund ihrer Tradition innerhalb der Wohngenossenschaften eine außerordentliche Stellung, aber eigentlich passte sie mit dem Grau ihrer teilweise maroden Vorkriegsbauten schon nicht mehr ins Bild. 1981 konnten die „alten ABG-Genossen“ noch den 70. Geburtstag ihrer Genossenschaft begehen. Als jedoch in den 1980er Jahren die Reorganisation der AWG´s neu nach Stadteilen erfolgte, wurde die ABG aufgelöst und ihre Siedlungen in die neuen Großgenossenschaften eingegliedert. Damit gingen die Spuren der ABG verloren. Erst als Ende der 1990er Jahre die Chemnitzer Allgemeine Wohnungsbaugenossenschaft e. G mit einer aufwändigen und mit dem Deutschen Bauherrenpreis gewürdigten denkmalgerechten Sanierung die Gartenstadt Gablenz wieder aus ihrem wohlbehüteten Dornröschenschlaf erweckte, kam die ABG-Geschichte wieder in den Fokus der Öffentlichkeit.

 

Literaturtipp

Gablenzsiedlung Chemnitz. Zur Entstehung, Geschichte und Sanierung einer Genossenschaftssiedlung. Verlag Heimatland Sachsen. ISBN 978-3-910186-38-5

 
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